Im Opfer sein
Stimme des Opfers:
- was soll ich tun? Ich hab doch keine Wahl
- ich kann doch eh nichts ändern
- ich habe mein Leben doch als Seele so gewählt, da kann und darf ich mich doch jetzt nicht darüber beschweren
- die Welt ist so, wie sie ist, was kann ich da schon ausrichten?
- da bin ich zu klein für
- wenn ich mich zeige, geschieht mir Unheil, also lasse ich es lieber
- ich bin doch eh nichts wert
- was kann ich als Einzelner schon erreichen?
- bevor ich unterliege, fange ich erst gar nicht an
- ich kann doch nichts dafür, daß ich so bin
- ich kann doch keine Forderungen stellen
- ich darf nichts sagen, sonst mache ich mich unbeliebt
- ich weiß nicht, wie es geht
- ich hab kein Geld
- ich kann mich nicht wehren
- mir geht es nur gut, wenn… z.B. die Sonne scheint
- ich kann nicht wiederstehen, ich muß das haben
- erst wenn ich drei Kilo abgenommen habe, kann ich mich lieben
- ich warte lieber darauf, daß die mich anrufen, bevor ich abgewiesen werde
- ich weiß ja nicht, wie es geht
- ich bin das Opfer meiner Kindheit, ich kann nicht anders
Aufgrund unserer Kindheitsgeschichte können wir nicht anders, als uns permanent im Opfer zu fühlen. Wir können nicht genug gesundes Ich haben, um angemessen für uns einzutreten und in gesunde Auseinandersetzung mit unserer Umwelt zu treten.
Wir haben nicht gelernt und es auch nicht vorgemacht bekommen, wie man gesund egoistisch und gleichzeitig sozial sein kann. Im Gegenteil. Wenn ich still (brav) bin, werde ich geliebt.
Die katholische Kirche hebt Opfertum als etwas hervor, was es gilt, zu leben, um ein guter Mensch zu sein und in den Himmel zu kommen. Sie fördert es, daß wir uns klein fühlen, daß wir still sind, nicht aufbegehren. Der Lohn dafür ist der Himmel, die Seeligsprechung.
Der extrem ausgelegte Islam fördert Selbstmord, um danach, was weiß ich, wie viele Jungfrauen als Geschenk zu bekommen. Was für ein Irrsinn.
Im Opfer zu sein ist anders als in sich Opfertum wahrzunehmen und sich dem zu stellen. Was mache ich damit, mich ständig im Opfer zu fühlen? Wie kriege ich überhaupt mit, daß ich mich im Opfer fühle?
Wir sind so sehr mit unserem Opfertum verbacken, daß wir meistens nicht wahrnehmen, daß dem so ist.
Wir sind fusioniert mit Mangel, Nichtkönnen, Kleinmachen, mit dem, was alles nicht geht. Und da wir es so sehr gewohnt sind, uns so zu fühlen, merken wir das nicht.
Erst wenn man in Beziehung geht mit sich selbst, mit diesem Riesenaspekt Opfer in sich, erst dann entsteht Raum dafür, Opfer in uns wahrzunehmen, zu fühlen, im Unterschied zu: im Opfer zu sein.
Das ist der große Unterschied zwischen Fühlen und ‑sich-gefühlt-fühlen‑, wie man sich fühlt, während man sich so fühlt.
Bin ich im Opfer, sehe ich keinen Weg daraus.
Fühle ich, daß ich im Opfer bin, habe ich Raum dafür, daß ich mich im Opfer fühlen kann und gleichzeitig Raum dafür, was ich eventuell tun kann, um nicht mehr im Opfer zu sein. Dieses Ich, was den Raum hat zu fühlen, wie es sich anfühlt, und Wege sucht, da herauszukommen, ist der Teil in unserem Herzen, der heil geblieben ist trotz allem Leiden und allen Verletzungen, die wir bisher erlebt haben.
Dieser Teil fühlt Mitgefühl mit uns selbst, dieser Teil will sich da herausbewegen mit aller Leidenschaft.
Dies geschieht nach und nach, in kleinen, meistens klitzekleinen Schritten, die es so was von wert sind, gegangen zu werden.
Es ist hilfreich, sich bewusst zu machen, daß das, wovor ich z.B. Angst habe, daß es geschieht, wenn ich mich zeige, in diesem Leben höchstwahrscheinlich nicht eintreten wird, z.B. die Angst, auf dem Scheiterhaufen zu landen, wenn ich meine Wahrheit sage. Die Angst, verbrannt zu werden, fühlt sich wahr an in diesem Moment, ist aber nicht real. Die Angst, in der es wahr ist, verbrannt zu werden, will sich gefühlt fühlen, sie basiert aber nicht auf realem Geschehen, sondern vermutlich auf Erinnerungen aus vergangenen Leben. Es gibt den Unterschied wahr gegen real. Es hilft, wenn wir uns im Opfer fühlen, zu erforschen, inwieweit meine Ängste wahr und inwieweit sie real sind.
Im Grunde sind alle Ängste wahr, weil wir sie irgendwann schonmal erlebt haben.
Jedes mal, wenn wir uns im Opfer fühlen und trotzdem entscheiden, etwas zu tun, wovor wir eine Riesenangst haben, werden wir stärker im gesunden Sinne, wächst unser Ichland.
Und dann können wir nicht anders als uns hinzuwenden zu den Aspekten in uns, die tatsächlich Opfer waren.
Nur Kinder sind wirklich Opfer. Sie sind naturgemäß abhängig von Erwachsenen, sie sind alleine nicht überlebensfähig. Die Ängste und Erfahrungen aus der Kindheit sind heute zwar wahr, aber nicht real in dem Sinne, daß wir heute in der gleichen Position sind wie damals als Kind.
Wir Erwachsene sind nicht mehr abgängig, auch wenn wir uns so fühlen. Und das herauszuarbeiten ist ein Weg zu mehr Selbstautorität, Selbstliebe und Lebensfreude.
Eigentlich leben wir immer noch in unserer Vergangenheit:
niemand liebt mich, auch wenn ich einen Partner habe, ich bin zu klein dafür, das kann ich noch nicht, usw.
Mehr in der Gegenwart zu leben würde bedeuten, mehr Risiko einzugehen, Neues auszuprobieren, in Auseinandersetzung zu gehen, sich mehr zu zeigen. Alles in dem für jeden Menschen ureigenen Rhythmus und Seelenausdruck.
Was wäre das für ein Leben, hätten wir nicht mehr den Unterdrückungsknopf?
Für mich der Himmel auf Erden.
Zitate von Daniel Stacy Barron:
„Opfern“ ist eine Handlung, die jemand aus strategischen unbewussten Motiven heraus ausführt, ohne dabei sein Eigeninteresse anzuerkennen, das der eigentliche Grund dafür ist, daß wir uns zu der betreffenden Handlung entschließen.
„Es ist eine komplette Illusion, daß wir als Menschen die Opfer von Gegebenheiten sein können.
Wir folgen immer unserem Interesse, unweigerlich.“
Ein Beispiel aus meinem Leben:
Ich sitze am Strand von Sommerset, Südafrika, und genieße das Rauschen des Meeres. Ein Auto parkt hinter mir mit offenen Fenstern und Musik. Ich höre ein seichtes Hosianna. Ich bin sofort genervt. Muß ich mir einen anderen Platz suchen?
Nein. Ich saß hier gut, mein Mietwagen hinter mir. Warum soll ich flüchten?
Ich ging zum Auto und sah eine Frau, die mit geschlossenen Augen hinterm Lenkrad saß und offensichtlich diese Atmosphäre brauchte.
Ich musste zweimal „ excuse me Mam“ sagen, damit sie mich hören konnte.
Ich erklärte mich, daß ich hier am Strand sitze, es genieße, dem Sound des Meeres zuhören zu können und daß es mich stört, nun ihre Musik hören zu müssen. Sie nickte, ihre Körpersprache sagte mir jedoch, daß sie jetzt von mir genervt ist. Sie drehte trotzdem das Radio deutlich leiser und ich war erleichtert. Jetzt ist sie weggefahren, und ich bin von Anfang der Aktion an nur froh und erleichtert, mich gezeigt zu haben und wieder dem Meer zuhören zu können.